Südamerika gilt als eine der urbanisiertesten Regionen weltweit. Langanhaltende Verstädterungsprozesse in den Metropolen wie Rio de Janeiro oder Salvador bringen eine Verknappung des Wohnraumes mit sich, die in vielen südamerikanischen Städten zu einer sozialen Degradierung führt. Die sanierungsbedürftigen Altbauten der ehemaligen Ober- und Mittelschicht werden plötzlich von der Unterschicht bewohnt, wodurch innerstädtische Elendsviertel mit mangelhafter Bausubstanz, einer hohen Wohndichte und einer unzureichenden Infrastruktur entstehen. Auch außerhalb der Städte siedelt sich die ärmere Bevölkerung in informellen Siedlungen, den Favelas, an. Bis zu drei von vier Menschen leben heute in Südamerikas Großstädten – ein Trend der durch Bevölkerungswachstum und Landflucht noch verstärkt wird und Elendsviertel anwachsen lässt. Dies sind meist Orte an denen Gewalt, Rechtlosigkeit und illegale Landbesetzungen vorherrschen. Viele Menschen siedeln sich außerdem zunehmend an gefährdeten Stellen wie steilen Abhängen oder in Senken an, die von Erdrutschen und Naturkatastrophen besonders betroffen sind.
Halbe Häuser gegen Armut
Von einer solchen Naturkatastrophe wurde auch die chilenischen Stadt Constitución getroffen. Ein Tsunami überschwemmte 2010 die Küstenstadt, rund 3.000 Familien wurden obdachlos.
Nach der Katastrophe wurde der chilenische Architekt Alejandro Aravena, der sich selbst als „Architekt und sozialer Dienstleister“ versteht, mit einem umfangreichen Wiederaufbauprojekt beauftragt. Aravena traf sich mit den Bewohnern der Stadt Constitución, um mit ihnen ihre größten Probleme und Bedenken, wie das Beibehalten des offenen Zugangs zum Fluss, das Verhindern von weiteren Überschwemmungen und die Schaffung von öffentlichen Plätzen, zu besprechen. Damit folgte er den festen Grundsätzen seines Büros: bei einem Projekt stets die Bedürfnisse der Bewohner mit den Anforderungen der Umwelt zu verknüpfen. Auch für Constitución entwickelte Aravena das Konzept des „halben Hauses“, für das er 2016 mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet wurde. Die Idee ist vor allem den strengen Vorgaben – kein Haus darf mehr als 30.000 Dollar kosten – des chilenischen sozialen Wohnungsbaus geschuldet. Auf den ersten Blick bieten die „halben Häuser“ einen etwas seltsamen Anblick, denn es reihen sich Häuser aneinander, die nur zur Hälfte ausgebaut sind. Aber das Konzept hat Potential. Mit einem halben Haus haben Familien die Möglichkeit, ihr Eigenheim Stück für Stück und auf sicherer Bausubstanz basierend zu vergrößern. Ein halbes Haus liegt mit seinen Kosten von 23.000 Dollar sogar noch unter den chilenischen Vorgaben und ist in weniger als neun Monaten fertiggestellt. Die Bewohner können sich somit in Eigeninitiative vergrößern und dürfen ihr Haus nach frühestens fünf Jahren gewinnbringend verkaufen. Meist sind die Häuser dann komplett ausgebaut und im Wert über das Doppelte gestiegen. Mittlerweile wurden tausende „halbe Häuser“ in Latein- und Südamerika errichtet.
In Constitución blieb es nicht nur bei dem Bau der halben Häuser. Aravena entwickelte und setze einen Masterplan zur Stadtentwicklung um, der die Bedürfnisse und Ängste der Bewohner berücksichtigte. So wurden Wälder angebaut, die Tsunamiwellen verlangsamen und Regenwasser aufnehmen und es gibt nun mehr öffentlich nutzbare Räume und ein Programm für die weitere Stadtentwicklung, das Aravenas Leitsatz „Architektur muss in der Lage sein die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern“, folgt.
Mit der Entscheidung, nicht nur selbst sozialen Wohnungsbau zu betreiben, sondern den ärmsten Familien auch finanziell zu helfen – der Staat trägt bis zu 20% der Baukosten bei, der Käufer leistet eine Eigenbeteiligung von 10%, die restliche Summe wird über übliche Bankdarlehn finanziert – geht Chile einen Sonderweg in Südamerika. Aber auch erfolgreiche Beispiele sozialen Wohnungsbaus in Ländern wie Venezuela, Argentinien und Ecuador zeigen die effektive Rolle von Regierungen als Mittler von Wohnraum für einkommensschwache Gruppen.