Architektur sollte durch die bestmögliche Nutzung der zur Verfügung stehenden Ressourcen (über ihre funktionale Bestimmung hinaus) einen Mehrwert für Menschen generieren. Dieser Mehrwert kann auf vielen Ebenen geschaffen werden: sozial, ökologisch oder auch kulturell. Trotzdem bleibt dies oftmals eine Herausforderung für jedes Projekt. Im Interview berichten Tobias Bünemann und Jabra Soliman von zwei konkreten Projekten.
NEUBAU VON NOTUNTERKÜNFTEN FÜR OBDACHLOSE IN DER STADT ESSEN

NAXNAX Netzwerk Architekturexport: 2018 gelang RKW Architektur + eine Deutschlandpremiere: Noch nie zuvor wurde eine Obdachlosenunterkunft als Neubau errichtet. Welchen sozialen Mehrwert bietet das Projekt „Neubau von Notunterkünften Liebrechtstraße“ der Stadt Essen?

Tobias Bünemann, Assoziierter Partner bei RKW Architektur +RKW Architektur +
Tobias Bünemann: Grundsätzlich war die Übernahme dieses Projekts eine außergewöhnliche Aufgabe, denn tatsächlich sind wir hier zum ersten Mal ein solches Thema angegangen. Bauten für Flüchtlinge, das ja – aber die sind in der Regel als temporäre Bauten konzipiert. Hier sollten wir erstmalig tatsächlich einen Neubau planen – das ist schon etwas Besonderes. Hier konnten wir nachweisen, dass eine flächeneffiziente und pädagogisch sinnvolle Neubaukonzeption langfristig wirtschaftlicher und nachhaltiger ist. Insofern war das für uns nicht eine irgendwie stilistische Aufgabe, hier ging es tatsächlich um den Prozess, um die Art und Weise, wie wir mit allen Beteiligten umgehen. Das können Sie dann gerne gesellschaftliche Verantwortung oder auch sozialen Mehrwert nennen.
NAX: Wie haben Sie das bei den Notunterkünften konkret umgesetzt?
Tobias Bünemann: Der Kern des Entwurfs ist, dass wir hier keine introvertierte Sonderarchitektur geplant haben. Wir wollten die Notunterkunft nicht als Fremdkörper im Bestand sehen, ganz im Gegenteil; wir öffneten die Architektur über direkte Nahtstellen in die Nachbarschaft. Wir drehten quasi alles auf links und legten die Erschließung nach außen.
Die Bewohner dieser Häuser finden so den Bezug nach außen, sie sollten nicht versteckt im Verborgenen leben. Dies genau ist der Punkt, über den die Architektur die Reintegration in die Gesellschaft unterstützen kann.
Es gibt aber noch einen zweiten Punkt, den ich ansprechen möchte: Denn wenn es um sozialen Mehrwert geht, dann muss man auch über Komfortgrenzen diskutieren. Denn hier einigermaßen hochwertig zu bauen, ist der Würde der Bewohner geschuldet. Und auf gar keinen Fall kann man sich hier Abstriche an gestalterische Ansprüche erlauben. Wir haben uns zum Beispiel am Ende für eine Fußbodenheizung und nicht für Heizkörper entschieden, da wir dadurch nicht nur flächeneffizient, sondern auch flexibel in der Möblierungsmöglichkeit waren; dies ist bei den kleinen Räumen entscheidend. Darüber hinaus konnten wir das kostenneutral umsetzen. Räumliche Qualität wäre hier ein wichtiges Stichwort; die bodentiefe Verglasungen trägt ihren Teil dazu bei, so holen wir nicht nur viel Tageslicht in die Räume, sondern öffnen den Raum nach außen.
NAX: Wie ist es Ihnen gelungen mit den relativ geringen monetären Mitten, die zur Verfügung standen, neben dem sozialen Mehrwert auch einen Schwerpunkt auf Nachhaltigkeit zu legen?
Tobias Bünemann: Wir wissen alle, dass es Menschen, die in Not kommen, leider immer geben wird. Das war für uns auch Anlass, hier solide, robust und im Sinne einer Nachhaltigkeit für die kommenden Jahrzehnte zu planen und zu bauen. Die Fassade mit den Klinkerriemchen bietet zum Beispiel eine höhere Stoß-und Schlagbeständigkeit als Putzflächen sowie auch eine einfache Reinigung und somit auf längere Sicht niedrigere Kosten im Unterhalt.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die Anlage auf unterschiedlichste Anforderungen reagieren kann. Innerhalb des durchgängigen Rasters mit einem Achsmaß von 3,75 m blieb uns genügend Flexibilität, drei der Einraumwohnungen barrierefrei zu planen, zwei zu Dreiraumwohnungen zu koppeln und vier zu Zweiraumwohnungen. Hier können Alleinstehende, Paare aber auch Familien eine Unterkunft finden, es gibt Wohnungen für Rollstuhlfahrer etc.
Natürlich mussten wir auch Abstriche bezüglich der Gestaltung eingehen, das stimmt. Denn beim Bauen mit einem extrem schmalen Budget sind Kompromisse unvermeidbar: Kunststofffenster mit Holzoptik zum Beispiel. Für uns Architekten eigentlich ein No-Go – genau wie die Klinkerriemchen und WDVS überhaupt. Hier jedoch können wir gut damit leben, weil uns die Kostenersparnis an dieser Stelle etwas mehr Großzügigkeit an anderer Stelle erlaubt hat und weil es bei Funktionalität und Haltbarkeit keine Kompromisse geben durfte.
ÜBERBAUUNG DER BAHNTRASSE IN DÜSSELDORF
NAX: Gerhard Matzig schrieb in der SZ vom 12.2.2020 in seinem Artikel (Stadtraum und Infrastruktur: Gebt die Bahn frei): „Dort, wo sich in Düsseldorf bis heute ein unansehnlich eiterhaft entstellter Gleisbereich samt einer Randvegetation, die man nur als infrastrukturelle Schambehaarung interpretieren kann, wie eine schwärende Wunde durch die Stadt zieht, könnte schon bald auf heilsame Weise ein urban einladender Stadtteil entstehen. Voller Wohn-, Büro- und Gewerbemöglichkeiten. Voller Grün und kurzer Wege. Voller Aufenthaltsqualität, Energieeffizienz und architektonischer Ambition.“ Das klingt ganz nach einem Projekt, das auf vielen Ebenen Mehrwert in der Architektur schafft. Genau welche Mehrwerte werden hier für Düsseldorf entstehen?
Jabra Soliman, Assoziierter Partner bei RKW Architektur +RKW Architektur +
Jabra Soliman: Wohnungsknappheit, Nachverdichtung, Flächenrecycling oder
innovative Mobilitätskonzepte – mit Themen wie diesen beschäftigen sich ja derzeit die meisten Großstädte – egal ob in Deutschland oder weltweit. Und genau dort setzen wir mit unserer Vision an. Konkret geht es um 5000 innerstädtische Wohnungen, nicht am Rand, sondern mitten in Düsseldorf. Wir überbauen die Nord-Süd Bahntrasse mit einer grünen Wohnbrücke und schließen damit die städtebauliche „Naht“. Benachbarte Stadtteile rücken zusammen, plötzlich könnte es eine Durchwegung zwischen dem Rheinufer und allen Stadtteilen geben. Aus dem Flächenrecycling einer Mononutzung entsteht eine Multichance für städtisches Leben: mit viel Grün, Raum für Erholung, mehr Identität, neuem Wohnraum und innovativen Verkehrskonzepten – ein lebendiges Stadtquartier mitten im Düsseldorfer Zentrum. Ob sich das auch technische realisieren lässt, prüfen wir derzeit in Zusammenarbeit mit anderen Planungsbüros. Und wer weiß, vielleicht wird irgendwann aus einer Vision ein Stückchen Realität?
NAX: Der Plan zu diesem Projekt stammt aus Ihrem Düsseldorfer Architekturbüro, beziehungsweise aus der dortigen Abteilung der „jungen Wilden“, die dort seit einiger Zeit unter dem Begriff „design.lab“ eine Art Denkfabrik stadträumlicher und architektonischer Planung betreiben. Was genau wird im „design.lab“ entwickelt und wodurch zeichnet sich die Herangehensweise der jüngeren Architektengeneration Ihrer Erfahrung nach aus?
Jabra Soliman: Das design.lab macht eigentlich genau die Dinge, für die im normalen Büroalltag keine Zeit bleibt. Die Dinge, die aber eigentlich Grundlage unseres architektonischen Denkens und unserer Herangehensweise sein sollten. Wie kann die Stadt von morgen aussehen? Welchen Fragen müssen wir uns stellen? Verdichtung statt Suburbanisierung – sind wir darauf vorbereitet? Wie könnten städtebauliche und typologische Antworten für diese neue Urbanität für das 21. Jahrhundert aussehen?
Im design.lab gibt es keinen Investor, kein gesetztes Raumprogramm, keine Vorgaben – wir entwerfen unsere Visionen ohne Einschränkungen. Und alle dürfen daran mitwirken. Und auch mal polarisierend sein und zur Diskussion anregen. Die „jungen Wilden“ gehen unbefangen an eine solche Aufgabe, so wie wir es alle noch aus dem Studium kennen. Manchmal sollte man sich wieder zurückerinnern an diese Zeit und einfach mal „herumspinnen“, freier denken und alte Strukturen aufbrechen.
NAX: Vielen herzlichen Dank Ihnen beiden, dass Sie sich die Zeit genommen haben, unsere Fragen zu beantworten!
Interview geführt im Juni 2020
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