Roger Riewe ist geschäftsführender Partner von Riegler Riewe Architekten und seit über 20 Jahren Professor für Architekturtechnologie an der TU Graz.
NAXNAX Netzwerk Architekturexport: Lange wurde „Smart City“ mit „digitaler Stadt“ gleichgesetzt. Das ist inzwischen nicht mehr so. Längst spielen auch Nachhaltigkeits- und Gesellschaftsthemen eine zentrale Rolle. Was verstehen Sie, als Architekt, unter einer smarten Stadt? Was bedeutet „smart“ im Zusammenhang mit Städtebau und Architektur für Sie?
Roger Riewe: Smart bedeutet doch, mit möglichst wenig sehr viel zu erreichen, egal ob im Alltag, oder wie hier, im Kontext von Architektur und Städtebau. „To be smart“, also klug zu sein, bedeutet Entscheidungen zu treffen mit weitreichenden Konsequenzen. Für eine tiefgreifende und nachhaltige Wirkung müssen die ganz wichtigen Entscheidungen möglichst frühzeitig getroffen werden. Wir müssen Pflöcke zu einem sehr frühen Zeitpunkt einschlagen, mit dem Wissen, dass hierdurch beeinflusste Entwicklungen Auswirkungen bis über mehrere Generationen hinaus haben werden. Fast selbstredend kommen Themen der Nachhaltigkeit mit ihren zahlreichen Fassetten in den Focus, an denen kein Weg mehr vorbeiführt – und kein Weg mehr vorbeiführen darf! Eine smarte Stadt ist also eine Stadt, wo eben diese klugen Entscheidungen und entsprechende Maßnahmen getroffen wurden und weiterhin getroffen werden, die zukunftsweisend, nachhaltig und resilient sind. Es geht um weit mehr bzw. etwas völlig anderes, als eine „digitale Stadt“ sein zu wollen. Eine Stadt ist viel zu komplex, um sie einfach nur mit (digitalen) Tools zu bespielen.
Die Identifikation mit einer Stadt, einem Quartier oder auch einer Wohnanlage ist Grundvoraussetzung für eine nachhaltige, soziale und damit verbunden, lebenswerte Stadt.
Roger Riewe
NAX: Wie kann Architektur konkret dazu beitragen, eine Stadt nachhaltiger, sozialer und lebenswerter zu machen? Welchen Ansprüchen muss sie gerecht werden?
Roger Riewe: Architektur, als Teilbaustein eines urbanen Gefüges, muss ein hohes Aneignungspotential und damit einhergehend ein immanentes Identifikationspotential aufweisen. Dies gilt natürlich auch für die öffentlichen und für die halböffentlichen Räume. Identifikation kann man weder planen noch bauen, jedoch lösen die Aneignungspotentiale Prozesse aus, die zu einer nachhaltigen Identifikation führen können. Die Identifikation mit einer Stadt, einem Quartier oder auch einer Wohnanlage ist Grundvoraussetzung für eine nachhaltige, soziale und damit verbunden, lebenswerte Stadt.
In diesem Kontext haben wir in München Perlach einen öffentlichen Park für alle Bewohner*innen festgeschrieben, auch für die Bewohner*innen bereits bestehender Nachbarschaften. Um ihn öffentlich zugängig zu halten, haben wir auch von einer Bebauung als nördliche Begrenzung abgesehen und stattdessen eine dreireihige Allee mit hoher Aufenthaltsqualität konzipiert. Die an der nördlichen Seite geplante Bebauung weist eine Erdgeschoßzone mit Überhöhe als Möglichkeitsräume auf, wo sich Cafés, Läden oder auch Ateliers niederlassen können. Hierdurch wird ein Potenzial geschaffen für Aufenthalt und Kommunikation, nicht nur für die neuen Bewohner*innen, sondern insbesondere auch als Schnittmenge bestehender und neuer Strukturen.
Die Entwicklung von hybriden Gebäuden sehen wir als ein Gebot der Stunde.
Roger Riewe
NAX: Gebäude sollten also neu gedacht werden. Wie?
Roger Riewe: Gebäude müssen auf jeden Fall neu gedacht werden, aber in diesem Zusammenhang meine ich jetzt keinen neue „Erfindungen“, sondern vielmehr eine Rückbesinnung auf Strukturen, die resilient sind bei gleichzeitiger Überlagerung von state of the art technologischen Entwicklungen.
Seit über dreißig Jahren plädieren wir für flexibel zu nutzende Grundrisse. Ein Wohnungsbau muss auch ein Bürogebäude sein können, oder ein Kindergarten, oder ein Hotel oder gar ein Architekturbüro. Die Entwicklung von hybriden Gebäuden sehen wir als ein Gebot der Stunde. Gebäude müssen dann nicht mehr bei einer anstehenden Nutzungsänderung abgerissen und neu gebaut werden. Sie können vielmehr lange leben, sehr lange, mit all ihrer gebunkerten grauen Energie. So wie die alten Gebäude in unseren Städten, die unverändert geblieben sind, nachträglich nur mit einem Glasfaserkabel ausgestattet wurden und heute mit zum Teil völlig neuen Nutzungen belegt sind. Wir müssen Abstand nehmen von den vorherrschenden, vordergründigen Optimierungsparametern hin zu einer resilienten Architektur.
Wir haben zum Beispiel bei dem Wohnungsbau ESG Straßgang die determinierten Bereiche zugunsten der nicht-determinierten Bereiche radikal reduziert bei gleichzeitiger Einführung eines „halben Raums“, womit eine klassische 2-Zimmer Wohnung zu einer unkonventionellen 2 1/2-Zimmer Wohnung wurde und eine 4-Zimmer Wohnung zu einer 4 1/2 Zimmer Wohnung wurde. Hierdurch konnten die Nutzer*innen zahlreiche Nutzungsvarianten realisieren. Keine Wohnung gleicht mehr einer anderen!
Technologisch müssen unsere Gebäude völlig neu gedacht werden. Über 50% der Energie im Life Cycle eines Gebäudes sind bei Bezug schon verbraucht. Diese Energie wird im Wesentlichen bei der Herstellung und Lieferung von Baumaterialien verbraucht. Daher ist es ein Gebot der Stunde, ressourcenschonend zu bauen! Wir bauen zu dick, wir bauen zu vielschichtig. Normen müssen angepasst werden, Anforderungen müssen evaluiert werden. Bautechnologische Herstellungsprozesse müssen grundlegend verändert werden.
Mir ist es wichtig, eine Architektur der Selbstverständlichkeit zu entwickeln, die im Kontext zahlreicher Parameter fundiert positioniert ist.
Roger Riewe
NAX: Welche Rolle spielen Themen wie „Green Buildings“ und „Shared Spaces“?
Roger Riewe: Mir ist schon bewusst, dass in Bezug auf Kommunikation ein gewisses Labelling die Verbreitung von Messages erleichtert. Aber das, was in diesem Fall die Kommunikation erleichtert, erschwert gleichzeitig die inhaltliche Arbeit. Vielmehr ist es mir wichtig, eine Architektur der Selbstverständlichkeit zu entwickeln, die im Kontext zahlreicher Parameter fundiert positioniert ist. Was habe ich von einem „shared space“, wenn es kleinen Kindern nicht mehr möglich ist, diese Flächen ohne Gefahr zu betreten, da diese Bereiche immer noch von Autofahrern dominiert werden? Was habe ich von „green buildings“, die ihr Label bildhaft zur Schau tragen, inhaltlich aber noch weit entfernt von einer nachhaltigen Architektur sind?
Verdichtete urbane Räume können dem stetigen Landverbrauch entgegenwirken und sind daher einzufordern. Gleichzeitig können städtische Räume Basis für unterschiedliche Mobilitäten und des ÖNV bieten. Der private MIV wird früher oder später auf dem Abstellgleis landen. Das Wegsparen von Hausmeistern hat entweder zu einer Verwahrlosung halböffentlicher Räume geführt oder diese Räume sind privatisiert worden, was zu einer viel härteren Zäsur zwischen öffentlich und privat geführt hat. Halböffentliche Räume müssen das Potential zur Aneignung haben, damit die Nutzer*innen sich in Folge damit identifizieren können.
Für die Wohnanlage Mendelgasse haben wir zum Beispiel auf das Erdgeschoss mit Wohnfunktionen verzichtet zugunsten eines extensiven, autofreien, halböffentlichen Raumes, der in Teilbereichen privatisiert werden kann (Schrebergärten). Unter den Gebäuderiegeln wurden neben den Eingängen multifunktionale Räume verortet für Räder, Gemeinschaft etc. Hierdurch ist es uns gelungen den Bedarf einer hohen urbanen Dichte mit dem Bedürfnis eines extensiven halböffentlichen Raums zu überlagern.
Wir müssen schneller reagieren. Hierbei geht es nicht um ein richtig oder falsch, sondern vielmehr darum, an den zur Verfügung stehenden Stellschrauben zu drehen, so viel wie möglich, alle gemeinsam!
Roger Riewe
NAX: Neben Projekten in Deutschland arbeiten Sie viel in Österreich. Welche Unterschiede sehen Sie generell in Hinblick auf die Umsetzung „smarter“ Städte und „smarter“ Architektur?
Roger Riewe: Vorweg, um es frei nach Karl Kraus zu sagen, der Unterschied zwischen Österreich und Deutschland ist die Verwendung der gleichen Sprache. Es gibt transnationale Unterschiede, und auch spezifisch regionale Besonderheiten, die die Unterschiede schlussendlich in der gebauten Umwelt prägen. Dies fängt an bei der Rolle der Architekt*innen bis hin zu den verschiedensten legistischen Parametern und deren Anwendungen. Ich erachte es für wichtig, sich im Kontext von Planungsprozessen in verschiedenen Ländern sich zum einen auf die lokalen Parameter (z.B. Gesetze) einzulassen aber auch gleichzeitig internationale Themen (z.B. Nachhaltigkeit, Klimaschutz) zu fordern und umzusetzen.
In diesem Kontext haben wir im Rahmen eines Leuchtturmprojektes für das New European Bauhaus versucht für das neue JRC Headquarter in Sevilla Kriterien aus dem Themenkomplex Nachhaltigkeit zu überlagern mit lokalen Standards. Daraus hat sich ein Gebäude ohne Klimaanlage entwickelt, was wiederum Einfluss auf eine neue Gebäudetypologie hatte, was infolge zu einem upgraden lokaler Standards im Entwurf geführt hat.
Im Allgemeinen befürchte ich, dass die Dramatik einer Klimakatastrophe bei vielen noch gar nicht angekommen ist. Deshalb erachte es für wichtig, nicht erst auf die Gesetzgebung zu warten, um die dringenden Themen in Architektur und Städtebau vor dem Hintergrund der Einhaltung der Klimaziele zu bearbeiten.
Wir müssen schneller reagieren. Hierbei geht es nicht um ein richtig oder falsch, sondern vielmehr darum, an den zur Verfügung stehenden Stellschrauben zu drehen, so viel wie möglich, alle gemeinsam!
NAX: Vielen Dank, lieber Roger Riewe, für die spannenden Beispiele und Ihren Blick auf die Themen Smart City und nachhaltiges, zukunftsorientiertes Bauen!