Deutschland sucht händeringend nach Lösungen für die Wohnraumkrise. Die im Koalitionsvertrag versprochene Zahl von 400.000 neuen Wohnungen wurde 2022 und auch im letzten Jahr nicht annähernd erreicht. Architekten und Stadtplanerinnen propagieren längst alternative Wege wie Bestandsaufstockung und Lückenschluss. Ein Blick in andere Länder stellt unterdessen den Flächenverbrauch der Deutschen in Frage:47,7 Quadratmeter Wohnfläche stehen hierzulande einer Person durchschnittlich zur Verfügung – das ist viel im europäischen Vergleich, sogar enorm viel, wenn man auf asiatische Metropolen, insbesondere nach Tokio schaut. In der größten Metropolregion der Welt leben 37 Millionen Menschen auf durchschnittlich 20 Quadratmetern pro Person, was innovative und platzsparende Wohnkonzepte erforderlich macht. Florian Liedtke, Doktorand am Institute for Sustainable Urbanism der TU Braunschweig, widmet sich in seiner Promotion der Frage, wie deutsche Städte von dem japanischen Modell lernen können, insbesondere durch das Outsourcen von Wohnfunktionen und eine effizientere Nutzung des zur Verfügung stehenden Raumes. Wir haben ihn gefragt, wie seine Erkenntnisse nicht nur zur Entlastung eines angespannten Wohnungsmarktes, sondern auch zur nachhaltigen Stadtentwicklung beitragen können.
NAXNAX Netzwerk Architekturexport: Herr Liedtke, in Deutschland spielt sich viel Leben in den eigenen vier Wänden ab – Kochen, Entspannen, Freunde treffen, mit den Kindern spielen. In Ihrer Doktorarbeit über das Thema „Wohnen außer Haus“ und transitorientierte Entwicklung (transit-oriented development, TOD) in Tokio beschreiben Sie den ganz anderen Umgang der Tokioter mit ihrem Wohnraum. Nehmen Sie uns kurz mit in ein typisches Tokioter Apartment und in den Alltag seiner Bewohnerinnen und Bewohner.
Liedtke: In über der Hälfte aller Haushalte in Tokio lebt nur eine Person – typischerweise in Einzimmerwohnungen mit kleinen Kochzeilen und kompaktem Bad. Andererseits leben viele junge Erwerbstätige noch bei ihren Eltern. In vielen Wohnungen herrschen also beengte Verhältnisse. Wenn man nun noch die enormen Ausmaße der Stadt und die daraus folgende Notwendigkeit zum regelmäßigen Pendeln – ein zweistündiger Arbeitsweg ist keine Seltenheit – einkalkuliert, wird klar, dass sich der Alltag außerhalb der Wohnung abspielt. Und das ist in Tokio auch hervorragend möglich durch viele verschiedene, günstige und rund um die Uhr verfügbare Service-Angebote, die auf eine Kombination von Öffentlichkeit und Privatsphäre spezialisiert sind. Diese Gewerbe haben viele Eigenschaften von Third Places, also den meistgenutzten Orten im Alltag nach dem Zuhause und dem Arbeitsplatz. Das sind zum Beispiel ganz praktische Shops wie Nudel- und Bowl-Restaurants als Ersatz für die heimische Küche oder die unzähligen Convenience Stores als stets gefüllte Kühlschränke im Stadtraum. Es gibt aber auch Läden, wie die sogenannten Compartment-Restaurants mit abgetrennten, privaten Abteilen oder Karaoke-Läden mit privaten Zimmern und Boxen, die als Ersatz für das Treffen mit Freunden im eigenen Wohnzimmer dienen. Selbst langjährige Liebespaare verabreden sich oft stundenweise außerhalb ihrer Wohnung in spezialisierten Love Hotels.
NAX: Wie schafft es die Architektur in Tokio, das „Zuhause-Gefühl“ in den öffentlichen Raum auszudehnen?
Liedtke: In vielen Fallstudien konnte ich zeigen, dass sich alle wesentlichen Funktionen der Wohnung hoch spezialisiert in diesen verschiedenen Gewerben wiederfinden. Einerseits sind diese Orte den Tokiotern durch ihre häufige Nutzung so vertraut wie ihr eigenes Apartment. Hinzu kommt aber auch, dass diese Art von Geschäften absolut serviceorientiert sind und ihren Kunden enorm viele Konfigurationsmöglichkeiten bieten, die zur räumlichen Aneignung beitragen: Sie können über Lieder und Lichteffekte in der Karaoke-Box entscheiden, den Stil ihres Love Hotel-Zimmers bestimmen oder entscheiden, wann die Bedienung das eigene Compartment im Restaurant betreten darf. Neben den jeweils Gewerbe-spezifischen Strategien, wie die Reduktion von Fenstern für mehr Flexibilität und Privatheit oder kompakte Innenräume für einen schnellen „Turnover“ von Kunden, gibt es auch viele architektonische Gemeinsamkeiten. Oft sind das Anleihen an Raumsequenzen oder architektonische Themen der konventionellen japanischen Wohnung, die an Gewohnheiten appellieren und dadurch ein Gefühl von vertrauter Wohnlichkeit erzeugen. Dazu gehört ein Eingangsbereich, der durch eine zusätzliche Stufe abgesetzt ist und über einen Schuhschrank verfügt, damit die Schuhe wie in der eigenen Wohnung ausgezogen werden können, aber auch eine Innenausstattung aus Holz und Lehm als Bild einer traditionellen Architektur. Der hohe Anteil an Franchise-Ketten und typisierten Inneneinrichtungen über alle diese Gewerbe hinweg ist ein weiterer Punkt, der auf eine hohe Familiarität einzahlt.
NAX: Wie wirkt sich das Auslagern von Wohnfunktionen in Tokio auf dem Maßstab der Stadt aus?
Liedtke: Tokio hat ein unglaublich effektives, feinmaschiges Schienensystem, was beim Wohnen außer Haus eine große Rolle spielt. Durch die Auswertung von ca. 80.000 Gewerbedatensätzen habe ich herausgefunden, dass nennenswerte Agglomerationen des Wohnens außer Haus nahezu ausschließlich im fußläufigen Umkreis um die Bahnhöfe zu finden sind. Das deutet auf wirkungsvolle Synergieeffekte hin, denn das Wohnen außer Haus profitiert wirtschaftlich von der Vielzahl täglicher Pendler, während die bereitgestellten Funktionen einen transitorientierten Lebensstil und damit auch dessen Infrastruktur fördern. Diese Verknüpfung funktioniert so gut, weil selbst zentrale Areale in Tokio sehr gut zu Fuß erschließbar sind und viele Blocks abseits der großen Verkehrsachsen defacto als Superblocks mit Shared-Space-Infrastruktur genutzt werden. Ein förderlicher Punkt ist die Kleinteiligkeit der Bebauung und die weitestgehend vernakuläre Struktur der Stadt. Alles Aspekte also, die eine Vielfalt von Gewerbeorten und Kundenpräferenzen ermöglicht, während ein schneller Zugang zu allen Funktionen sowie dem Schienennetz gewährleistet wird.
NAX: Wie profitieren Städte und Menschen davon, wenn Wohnfunktionen stärker in den öffentlichen Raum verlagert werden? Sehen Sie auch Risiken?
Liedtke: Diese japanische Art des Wohnens ist eine wirkungsvolle Anpassung an eine hohe städtische Dichte und die nicht mehr aufzuhaltende transitorientierte Entwicklung unserer Zeit. Gleichzeitig ermöglicht sie einen ressourcenschonenden Umgang mit dem Stadtraum. Die Lebensqualität hängt also nicht mehr von der Quantität der Wohnfläche ab, sondern verteilt sich auf viele Orte in der Stadt. Die vielfältigen Service-Angebote in Tokio kompensieren nicht nur eine kleine Wohnung, sondern erzeugen auch einen funktionalen Mehrwert beispielsweise durch höhere Essensqualität, besseres Entertainment Equipment oder komfortablere Badeeinrichtungen.
Aktuell liegt das Wohnen außer Haus in Tokio vornehmlich in privatisierten Händen mit wenig Teilhabe für Nutzerinnen und Nutzer. Es gibt zwar keine Anzeichen dafür, dass die preisliche oder zeitliche Zugänglichkeit dazu erschwert werden könnte, aber die mangelnde Planung und Kommunikation über diese zentralen Orte des täglichen Lebens mit den Bürgerinnen und Bürgern bringt natürlich gewisse Unsicherheiten für die Zukunft mit sich. Ohne das Wohnen außer Haus wären viele Wohnungen einfach zu klein. Trotz der vielen Vorzüge dieses Systems muss auch klar sein, dass das Wohnen außer Haus keine lebhafte Nachbarschaft ersetzt, sondern einen von vielen dezentralen Bausteinen des Wohnens in Tokio ausmacht.
NAX: Nun sind die Rahmenbedingungen in deutschen Großstädten ganz andere als in Japan. Was ließe sich trotzdem von Tokio nach Berlin übertragen?
Liedtke: Erstmal sehen wir in Tokio heute schon ein zentrales Problem bearbeitet, das auch bei uns spürbar an Brisanz gewinnt: Eine immer stärkere Urbanisierung mit folgendem Druck auf den Wohnungsmarkt. Etwas kompaktere Wohnungen mit adäquater Qualität wären auch in Berlin die logische Schlussfolgerung auf den Mangel der Ressource „Raum“. Das Wohnen außer Haus sollte dabei ein wesentlicher Baustein sein, der als eine Art Shared-Economy die konventionellen Wohnflächen und -funktionen ergänzt. Dabei fangen wir in Berlin ja auch nicht bei Null an, sondern nutzen schon täglich Cafés, Restaurants, Spätis, Co-Working Spaces oder 24/7 Supermärkte. Aus Tokio sollten wir ein systematisches Verständnis dieser Dualität mitnehmen und uns fragen, welche räumlichen Antworten sich auf unsere eigenen, lokalen Bedarfe nach einem Wohnen außer Haus finden lassen. Natürlich müssen die Preise solcher Serviceangebote in Summe auch den Haushaltsbudgets entsprechen. Unsere baurechtlichen Unterschiede und architektonischen Vorlieben sollten wir nicht als Hindernis begreifen, sondern als wichtigen Rahmen für ein lokal geprägtes, europäisches, deutsches oder Berliner Wohnen außer Haus. Die Diskussion um den Gebäudetyp E in Deutschland kommt hier genau zur rechten Zeit und kann viele neue Möglichkeiten des Wohnens außer Haus, idealerweise auch partiell mit öffentlicher Teilhabe, ausloten. Klar ist auch: So eine Entwicklung passiert nicht über Nacht, sondern kann sich, wie in Tokio, über mehrere Jahrzehnte und Bauzyklen erstrecken. Also, Zeit anzufangen!
NAX: Architektur und Städtebau in Japan ist nicht gerade ein niedrigschwelliger Forschungsbereich. Wie haben Sie sich als deutscher Wissenschaftler Zugang zu dem Thema verschafft?
Liedtke: Neben meinem architektonischen Hintergrund in Deutschland habe ich viele persönliche Alltagserfahrungen in Japan und mit dem Wohnen außer Haus gemacht. Einen Teil meiner Schul- und Studienzeit habe ich in Japan verbracht und war in den letzten 10 Jahren häufig für Forschungsaufenthalte im Land. Dabei habe ich andere Urban Studies Researcher kennengelernt, wie Prof. Dr. Christian Dimmer von der renommierten Waseda University und Prof. Dr. Jorge Almazan, Autor von „Emergent Tokyo“ und einer der wichtigen Vordenker des Wohnens außer Hauses in Tokio. Und natürlich Japanisch gelernt – ohne gute Sprachkenntnisse wäre es unmöglich gewesen, die größtenteils japanische Fachliteratur zu nutzen und Daten von Gewerbe-spezifischen Plattformen oder offiziellen Stellen auszuwerten.
NAX: Danke für die vielen Denkanstöße und den Einblick in Ihre Forschung!